Frankfurt (Reuters) - Im obersten Führungszirkel der Europäischen Zentralbank (EZB) herrschen unterschiedliche Sichtweisen zur Inflationsdynamik und den daraus folgenden geldpolitischen Schritten. EZB-Chefökonom Philip Lane riet zwar, die Lohnentwicklung im Euro-Raum als voraussichtlich wichtigem Inflationstreiber in den nächsten Jahren im Auge zu behalten. Eine grundsätzliche Änderung der Lohndynamik sei aber nicht zu sehen, schrieb er in einem auf der EZB-Webseite veröffentlichten Blogbeitrag. Dagegen hatte seine Direktoriumskollegin Schnabel in einer Rede in London am Donnerstag davor gewarnt, sich bei dem Thema zurückzulehnen. Aktuell sei das Lohnwachstum bereits recht schnell. Die EZB müsse eine Lohn-Preis-Spirale bereits im Vorfeld verhindern. Sie könne nicht warten, bis diese bereits eingetreten sei und dann erst reagieren.

Schon am Montag hatte EZB-Chefvolkswirt Lane in einem Interview erläutert, es gebe immer weniger Argumente für einen erneuten sehr großen Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte im Dezember. Die Plattform dafür sei nicht mehr vorhanden. Je mehr die EZB bereits getan habe, desto weniger müsse sie noch unternehmen. Ganz anders dagegen argumentierte Schnabel: Vorliegende Daten deuteten darauf hin, dass der Spielraum für eine Verlangsamung der Zinserhöhungen begrenzt bleibe, sagte sie in London. Die Hartnäckigkeit der Inflation dürfe keinesfalls unterschätzt werden. Geldpolitik müsse datenabhängig bleiben.

Damit tritt wenige Wochen vor der letzten Zinssitzung des Jahres die unterschiedlichen Einschätzungen der Währungshüter offen zu Tage. Die EZB hatte nach ihrer Oktober-Sitzung für das Treffen am 15. Dezember weitere Zinsanhebungen in Aussicht gestellt.

EZB-Beobachter rechnen inzwischen damit, dass die Diskussionen über den weiteren geldpolitischen Weg auf der kommenden Zinssitzung viel heftiger ausfallen werden als noch zuletzt. "Während die Entscheidung vom Oktober sehr unumstritten war und von einer großen Mehrheit getragen wurde, deuten die jüngsten Äußerungen von EZB-Vertretern darauf hin, dass die Diskussion auf der Dezember-Sitzung sehr viel hitziger und kontroverser sein wird", schreibt etwa Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING.

Die EZB hatte im Juli im Kampf gegen die anhaltend hohe Inflation die Zinswende eingeleitet. Inzwischen hat sie in drei aufeinanderfolgenden Sitzungen die Schlüsselsätze um insgesamt 2,00 Prozentpunkte angehoben, wobei sie im September und Oktober Jumbo-Zinserhöhungen um jeweils 0,75 Prozentpunkte beschloss. Der Einlagensatz, der aktuell maßgebliche Zinssatz and den Finanzmärkten, liegt damit inzwischen bei 1,5 Prozent. Zuletzt war die Inflation im Euro-Raum auf 10,6 Prozent hochgeschossen. Das ist mehr als fünfmal so viel wie das von den Währungshütern angesteuerte Ziel von zwei Prozent.