Hamburg (Reuters) - Volkswagen-Chef Herbert Diess kann den Umbau des Wolfsburger Autokonzerns wohl fortsetzen.

Nachdem seine Zukunft als Vorstandschef in den vergangenen Wochen wegen des Machtkampfs mit dem Betriebsrat lange am seidenen Faden hing, mehren sich Anzeichen, dass sich der 63-Jährige im Amt halten kann. "Es geht in die Richtung, dass der Streit beigelegt wird und Diess Vorstandschef bleibt", sagte eine Person mit Kenntnis der Beratungen am Montag der Nachrichtenagentur Reuters. Die in langwierigen Verhandlungen gefundene Lösung sehe vor, dass VW-Markenchef Ralf Brandstätter in den Konzernvorstand aufsteige. Diess solle sich künftig auf strategische Fragen der Konzernführung konzentrieren. Eine zweite Person sagte: "Das Pendel neigt sich eindeutig dahin, dass Diess bleibt."

Mit dem Aufstieg von Brandstätter verliere Diess an Einfluss auf das operative Geschäft, hieß es in Konzernkreisen weiter. Weder Volkswagen noch die Porsche SE, über die die Familien Porsche und Piech die Stimmrechtsmehrheit an dem Wolfsburger Konzern halten, äußerten sich. Der Betriebsrat lehnte ebenfalls eine Stellungnahme ab. Auch ein Sprecher des Aufsichtsrats wollte sich nicht äußern.

An der Börse herrschte Erleichterung. Die Volkswagen-Vorzugsaktie schloss drei Prozent höher und zählte damit zu den größten Gewinnern im Leitindex Dax.

PENDELDIPLOMATIE

Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch hatte zuvor in zahllosen Gesprächsrunden in den vergangenen Wochen zwischen den Fronten vermittelt. Ausgebrochen war der Streit mit dem Betriebsrat Ende September, als Planspiele von Diess für einen möglichen Abbau von 30.000 oder 35.000 Arbeitsplätzen bekannt wurden. Die Arbeitnehmerbank sah dies als schweren Vertrauensbruch an. Auch das mit 20 Prozent am Wolfsburger Autobauer beteiligte Land Niedersachen war entsetzt. Erst im Juli hatten die Eigner den Vertrag von Diess vorzeitig bis 2025 verlängert und seinen Kurs bestätigt, die Transformation zu einem Technologieanbieter nach dem Vorbild des US-Elektroautobauers Tesla zu beschleunigen.

Aus Konzernkreisen hieß es weiter, Pötsch habe auf eine Einigung in der Personalie Diess vor der entscheidenden Aufsichtsratssitzung am Donnerstag gedrungen. Dann soll das Kontrollgremium die Investitionsplanung für die kommenden fünf Jahre absegnen. Am Mittwoch soll der Führungszirkel des Aufsichtsrats die Sitzung vorbereiten. Auch das "Handelsblatt" berichtete, Diess solle bleiben, aber Macht abgeben. Neben Brandstätter solle Volkswagens Chefjustiziar Manfred Döss in den Vorstand einziehen. Döss (63), der ein enger Vertrauter der Eignerfamilien ist, solle das Ressort Integrität und Recht von der scheidenden Vorständin Hiltrud Werner übernehmen. Für das neu geschaffene Ressort für IT und Organisation ist Hauke Stars im Gespräch, bis 2020 Vorständin der Deutsche Börse AG.

MACHTBASIS DER IG METALL

Ein Kernpunkt des Zwists ist Diess' Drängen, das Stammwerk Wolfsburg schneller zu modernisieren. Der Konzernchef will die Fabrik, deren Grundstein vor mehr als 80 Jahren von den Nazis gelegt wurde, zum Aushängeschild für moderne Produktionsverfahren machen. Dazu soll im Umland von Wolfsburg eine neue Autofabrik entstehen, in der ab 2026 das teilautonome Auto "Trinity" vom Band läuft. Der Betriebsrat um die neue Vorsitzende Daniela Cavallo fürchtet, dass das mit 13.000 Produktionsmitarbeitern größte zusammenhänge Werk von VW, das aktuell wegen der Chipkrise kaum ausgelastet ist und Kurzarbeit fährt, den Anschluss an die Elektromobilität verliert, wenn dort nicht schon früher ein E-Auto gebaut wird. Einschließlich Verwaltung und Entwicklung arbeiten in Wolfsburg mehr als 60.000 Menschen für Volkswagen. Es ist die Machtbasis der IG Metall. Das erklärt auch die Härte, mit der Konflikte ausgetragen werden. Hinzu kommt, dass sich Cavallo bei den Betriebsratswahlen im kommenden Jahr dem Votum der Belegschaft stellen muss.

Diess, der unmittelbar vor Bekanntwerden des Dieselskandals vor sechs Jahren von BMW zu Volkswagen wechselte, lag von Beginn an im Streit mit der Arbeitnehmervertretung - zunächst als Chef der Hauptmarke VW und seit April 2018 als Konzernlenker. Anlass war oft sein Vorpreschen bei Themen, bei denen sich der Autokonzern seiner Ansicht nach nicht schnell genug wandelte. Auch mit seinem von Mitarbeitern als brüsk empfundenen Führungsstil eckte Diess an. Der Betriebsrat warf ihm vor, die Mitarbeiter nicht über seine Pläne für den Konzernumbau zu informieren und dadurch zu verunsichern. Hinzu kam seine starke Präsenz auf Twitter und Linkedin, mit der Diess Tesla-Chef Elon Musk nacheifert. Damit löste er auch bei den Eignerfamilien Porsche und Piech Kopfschütteln aus. Trotzdem hielt der Clan zu Diess, dem sie die Transformation des Riesenkonzerns mit zwölf Marken zutrauen.

Dabei stand Diess bereits mehrfach am Rande einer Entlassung - zuerst im Juni 2020 als er dem Aufsichtsratspräsidium im Zusammenhang mit Berichten aus internen Beratungen "Straftaten" vorwarf. Er konnte sich damals nur knapp im Amt halten, musste aber die Führung der Marke VW an Brandstätter abgeben, der bereits für das operative Geschäft zuständig war. Später brachte er den Aufsichtsrat mit wiederholten Forderungen nach einer vorzeitigen Vertragsverlängerung gegen sich auf. Jedes Mal konnte der Konflikt am Ende durch die Pendeldiplomatie des Aufsichtsratschefs entschärft werden. Im Gegenzug musste Diess aber meist Zugeständnisse machen und büßte Macht ein.

Als im April der langjährige Betriebsratschef und bis dahin größte Widersacher, Bernd Osterloh, als Personalvorstand zur Konzerntochter Traton wechselte, konnte Diess auf weniger Widerstand hoffen. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Denn Cavallo ist im Ton zwar verbindlicher, in der Sache aber nicht weniger hart als ihr Vorgänger. Als Diess sich abermals nicht an Absprachen hielt, seinen Führungsstil zu ändern, ging Cavallo in die Offensive. Sie warf ihm in einem Zeitungsinterview Versäumnisse bei der Umsetzung der Konzernstrategie vor, prangerte Probleme in der Zusammenarbeit der Marken an und hielt ihm Nachholbedarf bei der Softwaretochter Cariad vor. Kritik hagelte es auch am schwächelnden Geschäft in China, dem größten Absatzmarkt der Wolfsburger, auf dem VW beim Wechsel in die Elektromobilität nicht schnell genug ist.