Berlin (Reuters) - Die Bundesregierung hat sich beim Umbau der Energieversorgung einem Expertengremium zufolge in neue Abhängigkeiten begeben.

Zwar sei die Abhängigkeit von russischem Gas aufgelöst worden, jetzt kämen aber besonders viele LNG-Flüssiggaslieferungen aus den USA und Katar. Hier hätten sich die Importe in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, sagte Jonathan Barth, Sprecher des Fachrats Energieunabhängigkeit, am Dienstag in Berlin. Auch diese neuen Abhängigkeiten seien riskant. So würden Handelsschiffe im Roten Meer derzeit angegriffen. Außerdem hätten die USA gerade mitgeteilt, LNG-Lieferungen nach Europa überprüfen zu wollen. Es sei nicht garantiert, dass ausreichend Gas in der Zukunft zur Verfügung stehen werde.

Der Fachrat besteht aus acht Experten mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Barth sagte, Deutschland könne seine Abhängigkeit von Erdgas um 78 Prozent reduzieren. Der Großteil davon könne durch die Umstellung der Wärmeversorgung in Gebäuden und in der Industrie gelingen. "Wärme kann auch ohne Erdgas erzeugt werden." Technisch gebe es keine Hindernisse. "Die Technologien sind da." Die Industrie könne durch eine Umstellung auf Strom zu Kosten von nur zehn Milliarden Euro ihren Erdgasverbrauch halbieren. Im privaten Bereich schlagen die Experten Leasing-Modelle für Wärmepumpen vor. Hausbesitzer könnten sich dann klimafreundliche Wärmepumpen von Dienstleistern leihen, wodurch der Einbau leichter zu finanzieren sei, so Barth. Das könnte auch ein neues Geschäftsmodell für Stadtwerke werden.

Allerdings sind hohe private Investitionen nötig, wenn die Pläne Realität werden sollen. Das Expertengremium schätzt die Kosten auf 526 Milliarden Euro im Zeitraum bis 2045. Davon würden 482 Milliarden Euro auf den Gebäudesektor entfallen, 44 Milliarden auf die Industrie. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 sei es richtig gewesen, kurzfristig die Gasversorgung auf LNG umzustellen, sagte Barth. Nun müsse es aber darum gehen, langfristig unabhängig zu werden, um nicht mehr erpressbar zu sein.

Der Staat müsste dem Expertenrat zufolge mindestens drei Milliarden Euro pro Jahr bis 2030 zusätzlich aufbringen, um mit gezielten Förderungen private Investitionen anzuschieben. Dabei gehe es nicht nur um die Elektrifizierung der Industrie, sondern auch die Ausbildung und Umschulung von Fachkräften. Außerdem müssten bonitätsschwache Haushalte Zugang zu Krediten bekommen, bei denen der Staat das Ausfallrisiko übernehme.

(Bericht von Christian Krämer, redigiert von Kerstin Dörr. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)