Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Für Länder, die schon lange ein Stück vom Krypto-Kuchen abhaben wollen, könnte der regulatorische Kreuzzug der USA gegen das digitale Finanzwesen ein echter Segen sein. Das gilt zumindest, sofern kein neuer großer Betrug in ihrem Hinterhof auffliegt. Nach den Klagen der US-Börsenaufsicht (SEC) gegen Binance und Coinbase behaupten die Krypto-Börsen, in den USA in einem Kampf um ihre Existenz festzustecken. Dennoch haben sich die Bitcoin- und Ether-Preise sowie die Coinbase-Aktie erstaunlich gut gehalten.

Das mag zum Teil daran liegen, dass Kryptowährungen einen Ausweg haben. Sie können ins Ausland fliehen. Nach Angaben des Vermögensverwalters Coinshares ist der Anteil der USA am Bitcoin- und Ether-Spot-Handel in diesem Jahr von über 90 Prozent im März auf aktuell 70 Prozent eingebrochen, zugunsten von Asien und den Britischen Jungferninseln. Das in Europa gehandelte Volumen liegt nach wie vor bei 3 Prozent des Gesamtumfangs, aber das könnte sich bald ändern. Vergangenes Jahr haben Binance, Coinbase und Gemini einen großen Expansionsschub in der Region gestartet. Im März reichte der Stablecoin-Emittent Circle einen Antrag auf Registrierung als Krypto- und E-Geld-Anbieter in Frankreich ein. "Europa hat das Potenzial, das Epizentrum der Branche zu werden", argumentiert Binance in einem Blogbeitrag vom April.

Während der EU-Rahmen besonders umfassend zu sein scheint, werden ähnliche maßgeschneiderte Regulierungsansätze in der Schweiz, Großbritannien, Hongkong und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) entwickelt. Dies steht im Gegensatz zu den Bemühungen der USA, Kryptowährungen in die bestehenden Finanzvorschriften einzupassen.

Es ist noch nicht klar, wie weit der US-amerikanische Ansatz geht. Wie die US-Regulierungsbehörden argumentieren, ähneln einige Token sehr stark verdeckten Wertpapieren, die es Unternehmern ermöglichen, Finanzmittel für bestimmte Unternehmen zu erhalten. Der Ausgang der SEC-Klage gegen das Zahlungsnetzwerk Ripple aus dem Jahr 2020 dürfte erste Anhaltspunkte dafür liefern, wie die Richter genau definieren werden, was ein Wertpapier ist.

In der Zwischenzeit sind Bitcoin und Ether bisher der Prüfung durch die US-Regulierungsbehörden entgangen, was den Optimismus des Marktes schürt. Zusammen mit den so genannten Stablecoins machen sie etwa 90 Prozent des Handelsvolumens aus, was darauf hindeutet - aber nicht garantiert -, dass die meisten Kryptoaktivitäten in den USA doch weitergehen.


   Kryptowährung geraten immer mehr unter die Räder 

Der US-Gesetzgeber könnte auf Initiativen in anderen Ländern mit eigenen kryptofreundlichen Regelungen reagieren. Dies war jedoch wahrscheinlicher, als der Sektor noch viel Geld verdiente. Nach den Krisen bei Terra-Luna und FTX im vergangenen Jahr ist ein Großteil der Branche zusammengebrochen. Die Bitcoin-Preise sind innerhalb von zwei Jahren um 40 Prozent in den Keller gerauscht.

Alles in allem stehen die Chancen gut, dass sowohl die großen Akteure als auch die Start-up-Ökosysteme ihren geografischen Schwerpunkt verlagern. EU-Vertreter sind hungrig nach Krypto-Innovationen und vertrauen darauf, dass der EU-Vorstoß die Anleger schützt, indem sie etwa die Emittenten von Krypto-Vermögenswerten zwingt, ordnungsgemäße "White Papers" zu veröffentlichen. Das sind dann Dokumente, die eine ähnliche Funktion wie Wertpapierprospekte erfüllen sollten.

Aber die Regulierungsbehörden außerhalb der USA könnten ihre Offenheit noch bereuen. Die Umgehung der Regeln des regulären Finanzwesens ist kein Fehler der Kryptowährungen, sondern ein wesentliches Merkmal, das den Weg für zügellose Spekulationen geebnet und gleichzeitig uralte Phänomene wie den Bank Run wiederbelebt hat. Der Sektor muss erst noch beweisen, dass seine "Innovation" einen wirtschaftlichen Wert schafft, und die Bereitstellung eines maßgeschneiderten Systems könnte zu Missbrauch verleiten.

Eine von europäischen Gesetzgebern in Auftrag gegebene und im vergangenen Monat veröffentlichte Studie zeigt Eines nur zu klar. Es werden die nationalen Regulierungsbehörden Schwierigkeiten haben, 10.000 Krypto-Vermögenswerte zu klassifizieren und zu beaufsichtigen. Schließlich weist jeder einzelne von ihnen komplexe, unterschiedliche technische Merkmale und undurchsichtige Kontrollstrukturen auf. Ein großes Warnsignal ist, dass die EU-Regulierung eine unsichere Reichweite über sogenannte dezentrale Finanzprotokolle hat - derzeit ein heißer Wachstumsbereich. Obwohl theoretisch dezentralisiert, kann diese Art der Kryptowährung von großen Kreditgebern dominiert werden und die Stimmrechte in wenigen Händen konzentrieren.

In Europa oder anderswo dürfte die Atempause für die Kryptowelt nur so lange andauern, bis ein großer Skandal die Investoren trifft. Ein dezentrales Finanzprotokoll wird sie vielleicht nicht der Art von Liquiditätskrise aussetzen, die viele Krypto-Kreditgeber im Vorjahr bis ins Mark erschütterte, aber es gibt viele technische Fallstricke. An diesem Punkt werden die Aufsichtsbehörden ihren Griff wahrscheinlich verschärfen. Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass eine neue Regelung dazu führen sollte, dass Krypto-Vermögenswerte standardmäßig als Wertpapiere gelten, solange sie nicht ausdrücklich davon ausgenommen sind. So sehr Krypto auch rennen kann, am Ende könnten alle Wege zurück zur SEC führen.

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June 16, 2023 03:43 ET (07:43 GMT)