München (Reuters) - Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas sieht im russischen Haftbefehl gegen sie einen Versuch des Kremls, sie angesichts eines möglichen Top-Jobs in der Europäischen Union zu diskreditieren.

"Das soll mich einschüchtern und mich von Entscheidungen abhalten, die ich sonst treffen würde", sagte Kallas der Nachrichtenagentur Reuters in einem am Sonntag veröffentlichten Interview. "Aber das ist das russische Drehbuch, es ist nicht überraschend, und wir haben keine Angst", betonte die 46-Jährige, eine der stärksten Unterstützerinnen der Ukraine und schärfsten Kritikerinnen Russlands.

Russland hatte Kallas vergangene Woche wegen angeblich feindseliger Handlungen und einer "Schändung des historischen Andenkens" auf die Fahndungsliste gesetzt. Ihr wird "die Zerstörung von Denkmälern für sowjetische Soldaten" vorgeworfen, was nach dem russischen Strafgesetzbuch mit einer fünfjährigen Haftstrafe geahndet wird. In der früheren Sowjetrepublik waren in den vergangenen Jahren Denkmäler entfernt worden, die an den Kampf sowjetischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg erinnern. Estland war damals von der Sowjetunion annektiert worden. Kallas droht allerdings nur dann eine Festnahme, wenn sie russischen Boden betritt, andernfalls hat der Schritt der russischen Behörden keine praktischen Konsequenzen. In Brüssel wird spekuliert, dass Kallas neue EU-Außenbeauftragte werden könnte.

Auf den Posten angesprochen, reagierte sie zurückhaltend. "So weit sind wir noch nicht", sagte Kallas. "Ich bin Ministerpräsidentin von Estland." Allerdings heizten die Spekulationen über ihre politische Zukunft offensichtlich die Aggressionen Russlands gegen sie an. "Es ist hart, beliebt zu sein", sagte sie ironisch. "Die Russen haben das auch erkannt, und deshalb haben sie einen Haftbefehl gegen mich ausgestellt, um wirklich das größte Argument gegen mich zu betonen, dass ich eine Provokation für Russland bin."

"WAS IST DIE ALTERATIVE?"

Estland hatte vergangenes Jahr eine Initiative gestartet, um die Ukraine mit mehr Munition auszustatten. Das Ziel, bis zum März eine Million Artillerie-Schuss bereitzustellen, werden die 27 EU-Staaten allerdings verfehlen. Allenfalls die Hälfte der Menge wird erwartet. Die ukrainischen Streitkräfte klagen zunehmend über einen Mangel an Munition. "Das alles hat gezeigt, dass wir nicht genug haben, dass wir nicht genug produzieren und dass wir nicht schnell genug sind", sagte Kallas.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte an seine Partner auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Samstag appelliert, mehr zu liefern. Angesichts des Mangels verbuchen die russischen Streitkräfte an der Ostfront zunehmend Geländegewinne. Der tschechische Präsident Petr Pavel hat vorgeschlagen, dass die EU Munition von Drittstaaten kaufen und dann der Ukraine zur Verfügung stellen könnte. Kallas nannte dies eine Option. "Wir müssen realisieren, dass wir alles tun müssen, um den Aggressor zu stoppen."

Kallas hat die Möglichkeit einer EU-Anleihe vorgeschlagen, um ein solches Vorgehen zu finanzieren. Solchen gemeinschaftlichen Schulden stehen allerdings vor allem Deutschland, aber auch die Niederlande sehr skeptisch gegenüber. Sie sei sich dessen sehr wohl bewusst, räumte Kallas ein. Aber: "Was ist die Alternative?"

(Bearbeitet von Alexander Ratz, redigiert von Jörn Poltz.; Bei Rückfragen wenden Sie sich an berlin.newsroom@tr.com)

- von John Irish