Rafah (Reuters) - Israel hat eine Evakuierung von Rafah eingeleitet und damit offenbar die Vorbereitungen für eine seit Monaten angedrohte Bodenoffensive in der Grenzstadt im südlichen Gazastreifen vorangetrieben.

Dort haben geschätzt mehr als eine Million Palästinenser unter prekären Bedingungen Zuflucht vor dem seit sieben Monaten tobenden Krieg in dem abgeriegelten Küstengebiet gesucht. Das israelische Militär teilte am Montag mit, es habe die Zivilisten in den östlichen Stadtteilen dazu ermutigt, sich im Rahmen eines Einsatzes "von begrenztem Ausmaß" in "humanitäre Gebiete" zu begeben. Der israelische Armee-Rundfunk meldete, die Evakuierung konzentriere sich auf einige wenige Randbezirke. Deren Bewohner würden zu Zeltstädten in die nahe gelegenen Städte Chan Junis und Al-Muwassi geleitet. Die radikal-islamische Palästinenser-Organisation Hamas sprach von einer gefährlichen Eskalation, die Konsequenzen haben werde. Rafah gilt als letzt Bastion der Hamas im Gazastreifen.

Augenzeugen zufolge verließen erste Familien die betroffenen Gebiete in Rafah bereits kurz nachdem sie von der Evakuierungsanordnung gehört hatten. Viele Bewohner berichteten, sie seien telefonisch zum Verlassen ihrer Unterkünfte aufgerufen worden. Das israelische Militär forderte Zeugen zufolge zudem mit Textbotschaften in arabischer Sprache und Flugblättern dazu auf, sich in eine etwa 20 Kilometer entfernte "humanitäre Zone" zu begeben. Augenzeugen zufolge sind die Gebiete, in die sich die Menschen laut Israel begeben sollen, jedoch bereits überfüllt. Es gebe dort kaum noch Platz für zusätzliche Zelte. "Es regnet stark und wir wissen nicht, wo wir hin sollen", schilderte ein Flüchtling in einer Chat-App der Nachrichtenagentur Reuters die Lage. "Ich hatte befürchtet, dass dieser Tag kommen wird. Ich muss jetzt sehen, wo ich meine Familie hinbringen kann."

Israel droht seit Monaten mit einer Bodenoffensive auf Rafah. Die Stadt bildet nach Einschätzung des Militärs die letzte große Bastion der Hamas. Tausende Kämpfer der Palästinenser-Organisation und womöglich auch Dutzende Geiseln werden dort vermutet. Ein Sieg im Gaza-Krieg ist laut Armee ohne die Einnahme von Rafah nicht möglich.

Gleichzeitig war es aber das Militär, dass die Bevölkerung ursprünglich dazu aufgefordert hatte, sich nach Rafah zu begeben, um dort vor den Kämpfen im Rest des schmalen und dicht besiedelten Küstengebiets sicher zu sein. Inzwischen drängt sich deshalb etwa die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens auf engstem Raum in der Stadt. Hunderttausende harren in Zelten aus, es mangelt an medizinischer Versorgung, Trinkwasser und Lebensmitteln. Viele Menschen leiden nach Angaben von Hilfsorganisationen und Vertretern der Vereinten Nationen Hunger, Krankheiten breiten sich aus. Zudem wird die Stadt nach palästinensischen Angaben bereits immer wieder aus der Luft von Israel angegriffen.

ISRAEL WIRFT HAMAS VERWEIGERUNGSHALTUNG VOR

Nicht zuletzt wegen der verheerenden Bedingungen in Rafah ist Israel international auch bei seinen Verbündeten zunehmend in die Kritik geraten. Zahlreiche Staaten haben Israel aufgefordert, auf eine Bodenoffensive in Rafah zu verzichten - auch weil immense Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung befürchtet werden. Bereits jetzt sind in dem Krieg nach palästinensischen Angaben mehr als 34.600 Palästinenser getötet worden.

Dass dennoch ausgerechnet jetzt die Aufforderung zur Evakuierung erfolgte, begründete Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant mit den festgefahrenen indirekten Verhandlungen über eine Waffenruhe und die daran geknüpfte Freilassung weiterer Geiseln, die die Hamas seit ihrem Überfall am 7. Oktober festhält. Ein militärisches Vorgehen in Rafah sei notwendig, weil sich die Hamas den internationalen Vermittlungsbemühungen verweigert habe, erklärte Gallant.

Am Wochenende hatten ägyptische und katarische Vermittler in Kairo mit einer Delegation der Hamas über eine mögliche Feuerpause verhandelt. Im Laufe der Gespräche wurde jedoch klar, dass sowohl die Hamas als auch Israel, das nicht direkt in Kairo vertreten war, auf ihren teils gegensätzlichen Positionen beharren. Die Hamas fordert einen vollständigen Abzug Israels aus dem Gazastreifen und dass eine Waffenruhe letztlich in ein Ende des Kriegs münden muss. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lehnt das kategorisch ab. Neben der Befreiung der Geiseln zählt für ihn vor allem eine endgültige Entmachtung der Hamas.

Überschattet wurden die Verhandlungen zudem von den anhaltenden Kämpfe. Neben israelischen Bombardements im Gazastreifen mit erneut zahlreichen Toten gab es am Sonntag auch einen Hamas-Raketenangriff auf einen Grenzübergang in der Nähe von Rafah hervor. Drei israelische Soldaten wurden dabei getötet. Der Grenzübergang, über den dringend benötigte Hilfslieferungen in den Gazastreifen gebracht werden, wurde geschlossen.

Auslöser des Kriegs war ein Massaker von Hamas-Kämpfern im Süden Israels am 7. Oktober. 1200 Menschen wurden dabei nach israelischen Angaben getötet und mehr als 250 Geiseln genommen. Israel startete daraufhin seine Militäroffensive, in deren Folge der Gazastreifen zum großen Teil in Schutt und Asche gelegt wurde. Eine kurze Feuerpause gab es bislang nur Ende November. Dabei wurden mehrere Geiseln im Austausch gegen palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freigelassen. Allerdings befinden sich geschätzt immer noch etwa 130 Geiseln in der Gewalt der Hamas.

(geschrieben von Christian Rüttger.; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

- von Mohammad Salem und Hatem Khaled