Berlin (Reuters) - Börsenprofis blicken wegen der hohen Inflation weiter skeptisch auf die deutsche Wirtschaft.

Das Barometer für die Einschätzung zur Konjunktur in den nächsten sechs Monaten fiel im August um 1,5 auf minus 55,3 Punkte und damit das zweite Mal in Folge, wie das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) am Dienstag zu seiner monatlichen Umfrage unter 176 Analysten und Anlegern mitteilte. Ökonomen hatten mit einer Stagnation gerechnet. Die Fachleute bewerteten auch die aktuelle Lage pessimistischer. Die Trockenheit sorgt derweil für rekordniedrige Pegelstände am Rhein. Die deutsche Industrie warnt deshalb vor verheerenden Folgen für die Wirtschaft.

"Die anhaltende Trockenperiode und das Niedrigwasser bedrohen die Versorgungssicherheit der Industrie", sagte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Holger Lösch. "Die Unternehmen stellen sich auf das Schlimmste ein." Die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage verschärfe sich. In Emmerich nahe der Grenze zu den Niederlanden wurde erstmals ein Pegelstand von null Zentimetern gemessen, sagte ein Sprecher des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamtes. Der Pegelstand ist aber nicht gleichbedeutend mit der für die Schifffahrt entscheidenden Fahrrinnentiefe. Diese lag in Emmerich zuletzt bei knapp unter zwei Metern. "Schiffe können weiter verkehren", sagte der Sprecher. "Sie müssen aber ihre Ladung entsprechend anpassen."

Die ZEW-Konjunkturerwartungen verschlechterten sich im August noch einmal leicht, nach einem sehr starken Rückgang im Juli, kommentierte ZEW-Experte Michael Schröder die Entwicklung. Die Finanzmarktexperten rechneten mit einer weiteren Verschlechterung der ohnehin schwachen Konjunktur. "Die nach wie vor hohe Zunahme der Konsumentenpreise und die erwarteten zusätzlichen Kosten für Heizung und Strom belasten derzeit vor allem die Aussichten für die konsumnahen Wirtschaftsbereiche." Die Einschätzungen für die Finanzbranche hingegen verbesserten sich aufgrund der eingeläuteten Zinswende.

SCHWACHES SOMMER-QUARTAL - "REZESSION HAT BEREITS BEGONNEN"

Ähnlich sieht das Helaba-Fachmann Ulrich Wortberg. "Der Erwartungssaldo liegt auf dem niedrigsten Niveau seit der Finanzkrise 2008." Der Ukraine-Krieg, die hohe Inflation und weiter zu erwartende Leitzinsanstiege, von denen ein dämpfender Effekt ausgehen könnte, wirkten belastend. "Die konjunkturellen Perspektiven der deutschen Wirtschaft sind getrübt", betonte der Analyst. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt dürfte nach Worten von Chefökonom Thomas Gitzel von der VP Bank bereits im laufenden Quartal schrumpfen. "Die Rezession hat also bereits begonnen, denn auch für das Schlussquartal 2022 ist mit keiner Besserung zu rechnen." Selbst für den Jahresbeginn 2023 gebe es bislang kaum Anlass zur Hoffnung, dass sich das Umfeld wieder aufhelle. "Die Rezession dürfte über einen längeren Zeitraum zum wirtschaftlichen Wegbegleiter werden."

Die ab Oktober geplante Gasumlage für alle Verbraucher von 2,419 Cent pro Kilowattstunde schmälert deren Kaufkraft zusätzlich. "Allein die Gasumlage wird die privaten Haushalte mehr kosten, als ihnen durch die von Finanzminister Christian Lindner geplante Entlastung von zehn Milliarden Euro zugutekäme", erklärte Jörg Angele von der Fondsgesellschaft Bantleon. Den Haushalten drohe 2022 und 2023 nur durch höhere Energiepreise der Entzug von jeweils etwa 70 Milliarden Euro.

Wegen der angespannten Wirtschaftslage verschlechtert sich bereits die Zahlungsmoral der Firmen in Deutschland. "Viele Unternehmen haben derzeit mit erheblichen Kostensteigerungen zu kämpfen, die Ertrag und Liquidität belasten", erklärte Creditreform-Chefökonom Patrik-Ludwig Hantzsch zu einer Studie der Wirtschaftsauskunftei. Im ersten Halbjahr 2022 verzeichneten demnach Lieferanten und Kreditgeber im Geschäft mit anderen Firmen einen durchschnittlichen Zahlungsverzug von 10,5 Tagen, nach 9,9 Tagen im zweiten Halbjahr 2021. Die Gefahr von Zahlungsausfällen sei zuletzt stark gestiegen.

(Bericht von Klaus Lauer, Rene Wagner und Reinhard Becker, redigiert von Elke Ahlswede. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)