Von Jon Sindreu

LONDON (Dow Jones)--Wer erinnert sich noch an den ersten "China-Schock" Anfang der 2000er Jahre, als das geflügelte Wort von den "komparativen Kostenvorteilen" die Runde machte? In der aktuellen China-Debatte dreht sich dagegen alles um Industriepolitik. Die Frage ist, ob Europas Industriemacht Deutschland dem neuen Trend folgt.

Die Herausforderung billiger China-Exporte, die vor 20 Jahren in den meisten wohlhabenden Ländern die Zahl der Industriearbeitsplätze dezimierten, meisterte Deutschland recht gut. Damals konnte die Volksrepublik deutschen Konzernen wie Bosch, BMW und Siemens mit ihren technisch fortschrittlichen Produkten nicht das Wasser reichen. Selbige machten stattdessen große Fortschritte in China. Jetzt scheint dieses Wirtschaftsmodell aber auszulaufen: Während China es geschafft hat, die Exporte hochzufahren, um der internen Wachstumsschwäche zu entkommen, ist der deutsche Handelsüberschuss von 6 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung vor der Pandemie mittlerweile auf weniger als 4 Prozent gesunken.

Die Industrieproduktion liegt 10 Prozent unter dem Niveau vom Dezember 2018, wenngleich die am Montag veröffentlichten Zahlen eine deutliche Erholung im Februar zeigen. Selbst wenn der zyklische Abschwung vorbei sein sollte, blieben die langfristigen Probleme bestehen. Obwohl das Jahr 2024 für Anleger bisher großartig war, ist der Leitindex DAX in den zurückliegenden drei Jahren deutlich hinter den breiter angelegten Indizes der Eurozone zurückgeblieben.

Während die deutschen Autohersteller erst spät auf Elektromodelle setzten, haben chinesische Firmen ihre Hausaufgaben gemacht und viel von westlichen Firmen gelernt: Nun dringen sie auf Deutschlands Kernmärkte vor. Im Januar gab das von der Industrie geförderte Deutsche Wirtschaftsinstitut (IW) eine Warnung heraus: 13 Prozent der Einfuhren in die Europäische Union an hochentwickelten Erzeugnissen - darunter Pharmazeutika, Maschinen und Autos - kamen im Jahr 2022 aus China. Im Jahr 2000 hatte dieser Anteil gerade einmal bei 2,5 Prozent gelegen.

Die EU hat ihre Haltung gegenüber China inzwischen verschärft und mobilisiert Kapital für eigene grüne Industrien und den Halbleitersektor. Aber die Bemühungen sehen im Vergleich zu den Subventionen von Pekings blass aus, und sogar im Vergleich zur Industriepolitik der Biden-Regierung, die am Ende mehr als 1 Billion Dollar kosten könnte. Entscheidend wird sein, dass Deutschland weiter dafür trommelt, eine "Abkopplung" vom asiatischen Riesen zu verhindern. Deutsche Direktinvestitionen in China erreichten im Jahr 2023 einen Rekordwert, obwohl andere Länder sich zurückzogen.

Warum setzt Bundeskanzler Olaf Scholz, der in Berlin eine zunehmend unbeliebte Dreierkoalition anführt, nicht auf eine neue Wirtschaftswende? Wenn Industriepolitik der neue Trend ist, sollte Deutschland in der Lage sein, seine Konkurrenten zu übertreffen. Das Land hat eine niedrige Verschuldung und verfügt über eine starke industrielle Basis. Sein Einfluss auf die EU-Institutionen sollte es ihm ermöglichen, bei Bedarf Verbote von staatlichen Beihilfen zu verhindern, Handelsbarrieren zu setzen und - wenn Peking Vergeltung übt - die Nachfrage nach seinen Produkten in Europa zu steigern.

Einiges davon ist schon geschehen. So hat sich der Handelsüberschuss von Deutschland gegenüber der Eurozone tatsächlich ausgeweitet. Oder die Investitionen in China: Seit 2017 handelt es sich dabei ausschließlich um einbehaltene Gewinne etablierter Unternehmen und nicht um "zusätzliches" Geld. So schrieben Helena Gräf und Salome Topuria vom Institut für Internationale Politische Ökonomie Berlin kürzlich in einer Studie, die Bundesregierung habe sich schon vor der Pandemie der Industriepolitik verschrieben - mit der sogenannten Industriestrategie 2030.

Ausgelöst wurde sie durch die EU-Blockade der Megafusion der Bahngeschäfte von Siemens und Alstom (trotz wachsender Konkurrenz aus China) im Jahr 2019 und brachte es später bis auf die EU-Ebene. Seitdem wurden in Berlin bestimmte Unternehmen gezielter unterstützt als in vielen europäischen Hauptstädten.

Auch überwindet Deutschland in der Verteidigung Differenzen mit Frankreich, etwa bei einem Panzer der nächsten Generation. Das könnte Aktien von Firmen wie Rheinmetall Auftrieb geben.

Konsistent ist der Wandel bisher jedoch nicht. Der Politikwissenschaftler Etienne Schneider vom Institut für Internationale Entwicklung an der Universität Wien weist darauf hin, dass die Präsidentschaft von Donald Trump die politische Einigkeit in der Bundesrepublik zwar gestärkt hat, diese sei aber "während der Biden-Regierung in den Hintergrund gerückt".

Auch die "Schuldenbremse", die sich Deutschland 2009 in das Grundgesetz geschrieben hat, mag zwar populär sein, sie setzt dem Staat finanziell aber eine enges Korsett. Im vergangenen Jahr war sie der Grund, weshalb das Verfassungsgericht 60 Milliarden Euro blockierte, die die Ampelregierung für klimabezogene Industriesubventionen bereitstellen wollte. Letztlich erklärt sich die Lähmung im korporatistischen System Deutschlands jedoch durch seine Zusammensetzung.

Die multinationalen Konzerne, die sich um das Label "nationaler Champion" bewerben, wie etwa Siemens, sind offen dafür, mit der wirtschaftspolitischen Vergangenheit zu brechen. Mehr binnenwirtschaftlich orientierte Firmen und die sogenannten "Hidden Champions" - ein Begriff, den der Unternehmer Hermann Simon für Mittelständler geprägt hat, die spezialisierte globale Märkte dominieren - misstrauen den großen Spielern. Sie haben weniger Angst vor der chinesischen Konkurrenz und scheren sich wenig darum, wenn Deutschland in der Konsumgüterindustrie an Boden verliert. Ihre Interessen sind ein Kernthema der Freien Demokraten, die in den Umfragen deutlich verloren haben, und sich mit der Forderung nach einem Ende staatlicher Subventionen von ihren Regierungspartnern distanzieren will.

Doch eine Deindustrialisierung würde dem gesamten deutschen Ökosystem schaden - auch den Hidden Champions. Gerade ihre Fähigkeit, klare Export- und Investitionsziele zu erreichen, macht sie zu idealen Nutznießern einer gut konzipierten Industriepolitik. Reformen des freien Marktes allein können weder das Ende des billigen russischen Gases noch Chinas Politik der langsamen Verdrängung westlicher Produzenten ausgleichen.

Und wie das britische Beispiel zeigt, ist eine Verlagerung der Wirtschaft hin zu Dienstleistungen mit steigender Ungleichheit verbunden. Vielleicht schaffen es die deutschen Politiker irgendwann, die richtigen Schritte zu tun. Die Uhr tickt.

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April 11, 2024 07:11 ET (11:11 GMT)